---
  BASTARD   ASS ( I )   FROM   HELL von Florian Schiel
zurück 
TEIL 14
T e i l   39 weiter 
TEIL 48
---  
B.A.f.H.

39

Ich mache meinen üblichen Rundgang durch die Labors und bemerke 3 (in Worten DREI) Workstations, die entgegen meiner ausdrücklichen Anordnung nicht am unterbrechungsfreien Stromkreis angeschlossen sind. Das verdrießt mich, weil ich (im Gegensatz zur Haustechnik) das normale Stromnetz nicht beeinflussen kann. Den unterbrechungsfreien Stromkreis schon, weil er von einer speziellen Überwachungselektronik kontrolliert wird, die zufälligerweise über eine serielle Schnittstelle mit meiner Sun gekoppelt ist.

Da ich nur ungern die Kontrolle aus der Hand gebe, beschließe ich, unseren unbotsmäßigen Mitarbeitern den Nutzen des unterbrechungsfreien Stromnetzes ein für alle mal deutlich zu machen. 
Ich öffne die Kaffeemaschine und schliesse die Heizwendel mit einem hauchdünnen Eisendrähtchen kurz. Das nächste Mal, wenn jemand die Kaffeemaschine ansteckt, fliegt natürlich die Sicherung und die unbotsmäßigen drei Workstations verenden wegen akuten Elektronenmangels. Und weil der Kurzschluß den dünnen Eisendraht vollständig verdampft, bleibt keinerlei Spur zurück. Das perfekte Verbrechen!

Kaum bin ich zurück in meinem Büro - ich durchsuche gerade die User-Mail nach interessanten Themen - klopft es zaghaft an meine Tür. 
Da ich pro forma noch Sprechstunde habe, hole ich das WW (Working Window) auf den Bildschirm und rufe:

"Herein!"
Die Antwort ist ein Geräusch irgendwo zwischen Luftschutzsirene und Heulboje, das schlagartig um 30 dB zunimmt, als sich die Türe öffnet.

Im Türrahmen steht eine nicht unhübsche, aber mir unbekannte Studentin und lächelt mich entschuldigend-freundlich an. In ihren Armen, fest umklammert - wahrscheinlich damit es nicht entkommt - hält sie ein zuckendes Stoffbündel, in dem sich offenhörlich die Quelle des unnachahmlichen nervenzerreibenden Geräuschs befindet: ein ziemlich rotgesichtiges und ganz offensichtlich schlecht gelauntes Baby.

"Sie mag es nicht, wenn man sie aus ihrem Buggy hebt", ruft die Studentin mir erklärend über dem ohrenbetäubenden Lärm zu.
Ich kann sie kaum verstehen. 
Beim Versuch, das wild um sich schlagende Baby in seinem Stoffbündel zu halten, dreht sie es zufällig so, daß sein Blick auf mich fällt. Zwei große dunkelblaue Augen starren mich an und - schlagartig verstummt der Lärm. Das Baby lacht plötzlich.
"Gott sei Dank", atmet die junge Mutter auf, "sie mag Sie. Wissen Sie, ich habe gleich ein Referat zu halten und ich kann sie schlecht mit in den Seminarraum nehmen. Daher habe ich gedacht, daß Sie ... Sie sind ja sowieso während Ihrer Sprechstunde hier, und da dachte ich ... 
Normalerweise bitte ich Frau Bezelmann, auf sie aufzupassen, aber ich kann sie gerade nicht finden ... Sie heißt übrigens Pia. Es wird keine halbe Stunde dauern, das verspreche ich, vielleicht 40 Minuten, höchstens 50. Ich bin dann sofort wieder da. Am besten lassen Sie sie die ganze Zeit in ihrem Buggy sitzen, da fühlt sie sich wohl und ..."
Während das alles aus dem Munde der Studentin hervorsprudelt, hat sie geschickt eine Art Kleinkinderwagen auf autonom lenkbaren Zwillingsreifen in mein Büro bugsiert und das blauäugige Baby namens Pia hineingeschnallt.
"... und ich bin sicher, daß sie ganz brav sein wird. Für den Notfall steckt hier hinten eine Flasche mit Tee - sie können es ihr ruhig ungewärmt geben - und an der Stange hier hängt ihr Dutsi, den verlangt sie manchmal, aber wundern Sie sich nicht, wenn sie ihn verkehrt herum hineinsteckt ... Sie wissen ja gar nicht was Sie mir für einen Gefallen tun ..."
Ich muß zugeben, daß ich das bis vor ein paar Sekunden wirklich nicht wußte.
"... das Referat ist sehr wichtig für mich; ich brauche unbedingt diesen Schein ... Oh, mein Gott! Ich bin schon viel zu spät dran! Also bis gleich dann ..." 
"Aber ...", sage ich - aber sie ist schon weg.
Ich starre die geschlossene Türe an. Das sollte eigentlich ein ruhiger Tag werden. Ich wollte in aller Ruhe die User-Mail durchschauen, in ein paar Personalakten herumstöbern und ein, zwei Beschwerdebriefe an die RKfH verfassen. Und jetzt dies!

Ich schaue das blauäugige Baby an. Es hat die ganze rechte Hand bis zum Unterarm in den Mund gesteckt und schaut mit seinen dunkelblauen Augen ernsthaft zurück.

"Pia?" sage ich versuchsweise.
Es lacht. Es lacht und antwortet etwas, was ungefähr wie
"Gigjigjikaikaioooh!" klingt.
Aus dem Gesichtsausdruck schließe ich, das es etwas Fröhliches sein muß, ansonsten verstehe ich kein Wort.

Was soll ich jetzt machen? Der "Leitfaden für den Bastard X from Hell" hat für diesen Fall keine Eintragung vorgesehen.

Während ich nachdenke, hat sich das Baby - Pia, wie ich es in Geiste schon nenne - eine Meßstrippe geangelt und den Bananenstecker in den Mund gesteckt. Die rote Gummiisolierung scheint ihr zu schmecken, denn sie beginnt, die meterlange Strippe mit erstaunlichem Appetit in den großen Mund zu schieben.

Ich habe die vage Idee, daß das keine adäquate Beschäftigung für Damen in ihrem Alter ist, und gehe hinüber, um Pia die Strippe abzunehmen. 
In diesem Moment läutet das Telefon. Mit der einen Hand hebe ich ab, mit der anderen ziehe ich vorsichtig am Ende der Meßstrippe.

"Ja?" sage ich.
Es ist die RKfH. Sie möchten bezüglich meines Beschwerdebriefes von vor 7 Monaten einige Fragen klären. Pia hat sich inzwischen in den Stecker verbissen und möchte ausprobieren, ob ich sie daran aus dem Kleinkinderwagen auf autonom lenkbaren Zwillingsreifen heben kann. 
Währenddessen verhandele ich über meine Spesenabrechnung von Honolulu. Aber ich bin nicht ganz bei der Sache, was auch der RKFH auffällt.
"Stimmt etwas nicht?" fragen sie irritiert. 
"Nein, alles in Ordnung", versichere ich. "Moment ... ah! Jetzt hab' ich dich ..."
In diesem Moment verläßt der Bananenstecker mit deutlich vernehmbarem Ploppen den Babymund. Pia bedauert, daß das herrliche Spiel schon zu Ende ist, und schaltet ihre Luftschutzsirene ein.
"Hören Sie, wenn ich lieber später nochmal anrufen soll ...", schlägt die RKFH vage vor.
Ich versichere schreiend, daß alles in Ordnung sei.
"Das sind die Handwerker auf dem Dach, verstehen Sie? Die machen einen Höllenlärm, wenn sie die Verkleidungsbleche aufsägen ..."
Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, daß irgendein Handwerker so etwas zustandebringt, aber die RKFH akzeptiert die Erklärung. Trotzdem meinen sie, daß ich besser wieder anrufen solle, wenn sich der Lärm etwas gelegt hat.

Erleichtert ziehe ich den Stecker des Telefons aus der Wand. Dann denke ich scharf nach, wie das Problem zu lösen sei. 
Nach dem Bundes-Immissionsschutz-Gesetz, Verordnung über Lärmschutz am Arbeitsplatz, darf man sich einem Lärmpegel von über 100 dB maximal 10 Minuten am Tag aussetzen. 
Ich schätze, der Lärmpegel in meinem Büro beträgt in den Spitzen zur Zeit etwa 115 dB. Ich muß also schleunigst etwas unternehmen!

In der Werkstatt leihe ich mir ein paar Lärmschützer, genannt "Rabbit Ears" aus und eile zurück zu meinem Büro. Vor der geschlossenen Türe steht Marianne und lauscht mit schiefgelegtem Kopf.

"Was ist das für ein infernalischer Krach, der da aus Ihrem Büro kommt? Hören Sie eine klingonische Oper?" fragt sie. "Das klingt ja fast wie ..."
Ich erkläre hastig, daß die Lager in meiner Festplatte dringend geschmiert werden müssen, und frage, ob sie nicht schon längst Aufsicht im Mikroprozessor-Praktikum halten müsse.

Wieder im Büro schließe ich als erstes die Türe hinter mir ab. Wenn jemand erfährt, daß ich auf ein blauäugiges Studenten-Baby aufgepaßt habe, verliere ich meinen schlechten Ruf!

Mit den Rabbit Ears ist der Lärm unterhalb der Schmerzgrenze und ich kann weitere Schritte unternehmen. Was mache ich sonst, wenn ich bei einem Problem mit der Verwaltung nicht weiterkomme? Richtig! 
Erpressung oder Bestechung!

Da ich mit der Erpressung von Babies wenig Erfahrung habe, suche ich zunächst nach der Teeflasche für Notfälle. Nur anhand des Gummisaugers kann ich messerscharf schließen, daß es sich bei dem merkwürdig geformten durchsichtigen Objekt mit grell-rotem Inhalt um die Teeflasche handeln muß. In meiner Erinnerung sahen Babyflaschen ganz anders aus. Egal! 
Ich zeige Pia die Teeflasche und erkläre ihr langsam und deutlich, daß sie sofort Tee bekomme, wenn sie mit dem infernalischen Lärm aufhöre. Keine Wirkung. Der Lärm geht weiter.

Vielleicht funktioniert das bei Babies anders als bei Verwaltungsangestellten, vielleicht muß man das Bestechungsgut zuerst aushändigen, bevor man die Ware erhält. 
Ich halte Pia, die mittlererweile bläulich angelaufen ist, vorsichtig die Flasche in Reichweite. Ein perfekt gezielter Handkantenschlag befördert das Bestechungsgut auf meinen Schreibtisch. Dort prallt das zum Glück unzerbrechliche Ding an meinem Display ab.

Leider löst sich der Gummisauger und die grell-rote Flüssigkeit ergißt sich in mein Keyboard. Auf dem Display zuckt es und es erscheinen einige Seiten Hieroglyphen, bevor meine Workstation das Handtuch wirft und einen Notfall-Shutdown einleitet.

Als letzten Ausweg halte ich Pia ihr "Dutzi" vors Gesicht. Sie greift danach, einige gewaltige Schluck-Schluchzer, die Sirene läuft langsam aus. Ich atme auf.

Ich beseitige gerade den teuflisch klebrigen Tee von meinem Schreibtisch, als es klopft.

"Äh ... hrrm ... Leisch? Sind Sie da ... äh ... drin?"
Der Chef! Ausgerechnet jetzt! 
Ich öffne die Türe einen Spalt und schlüpfe hinaus.
"Ah ... äh ... was wollte ich noch ... Ach, ja! Ich wollte Sie ... hm ...
über den ... den ... Dings ... den ... äh ... Stand im SCHWAFEL-Projekt fragen. Ist da noch ... ähm ... Geld übrig?" 
"Ich hole schnell die Akte", sage ich und will wieder durch den Türspalt.
Der Chef schaut mich verwundert an.
"Ich ... ich habe gerade Besuch", sage ich vage.
der Chef nickt verstehend. In dem Moment, als ich die Türe offen habe, entscheidet Pia, daß ihr Dutzi an die Qualitäten einer Meßstrippe nicht herankommt und schaltet ihre Luftschutzsirene probeweise auf halbe Kraft. Der Chef reißt die Augen auf.
"Aber ... aber das ist doch ... das ist doch ein ... Dings ... ein ... äh ... Baby?"
Da es wenig Sinn hat, es weiter zu leugnen, öffne ich die Türe ganz und rolle den Kleinkinderwagen auf autonom lenkbaren Zwillingsreifen etwas hin und her, damit das Geheule auf einen erträglichen Pegel absinkt.
"Oh", sagt der Chef und bekommt den typischen großväterlichen Glanz in den Augen. "Ich wußte gar nicht, daß ... daß Sie ein äh ... Baby haben ..." 
"Das habe ich auch nicht", beeile ich mich zu versichern. 
"Aber ... aber das ist doch ein Baby." 
"Ja, natürlich", gebe ich notgedrungen zu.
Zu allem Überfluß tauchen jetzt Kollege O. und Marianne im Flur auf.
"Nein, wie süß!" ruft Marianne und späht dem Chef über die Schulter, der in die Hocke gegangen ist und etwas wie: 
"... äh ... heitetei .... hrrm ... ähm ... heiteiteitei ... äh ..." von sich gibt. 
"Ich wußte ja gar nicht ...", murmelt Kollege O. verblüfft und schüttelt mir aus irgendeinem Grunde krampfhaft die Hand.
Wie sollte er auch. 
Ich wußte es ja bis vor ein paar Minuten auch nicht.
"Wie aus ... äh ... aus dem Gesicht ... hrrm ... Gesicht geschnitten ..." 
kommt es vom Chef.
Ein fürchterlicher Verdacht steigt in mir auf.
"Wie heißt den der Kleine?" fragt Marianne. 
"Die Kleine", sage ich erschöpft. "Sie heißt Pia."
Marianne beteuert, daß das ein ganz süßer Name sei für ein Baby. Drei Studentinnen gesellen sich zu der Versammlung in meinem Büro.

Während immer mehr Leute hereinströmen, versuche ich vergeblich zu erläutern, wie ich zu dem Baby gekommen bin. Komischerweise scheint niemand auf meine Worte zu achten.

"Ja, ja", sagen sie und haben nur Augen für Pia.
Pia hat inzwischen den halben Feueralarm eingestellt und schaut mit großen Augen in die vielen fremden Gesichter. Die Mundwinkel verziehen sich nach unten und sie beginnt zu weinen, was große Bestürzung unter den Anwesenden auslöst. 
Marianne befreit sie aus dem Kleinkinderwagen auf autonom lenkbaren Zwillingsreifen und nimmt sie auf den Arm, was das Weinen noch mehr verstärkt. Ratlos blickt Marianne sich um und ihr Blick fällt auf mich.
"Nehmen Sie sie", sagt sie, "dann beruhigt sie sich sicher wieder." 
"Das bezweifle ich", sage ich bitter eingedenk der vergangenen Stunde.
Aber der soziale Druck der Versammlung ist zu groß: ich muß Pia auf den Arm nehmen. 
Sofort packt sie mit erstaunlicher Kraft mein linkes Ohrläppchen und versucht es abzuschrauben. Gleichzeitig sabbert etwas Warmes in meinen Kragen. Pia gluckst fröhlich. 
Alle Anwesenden lächeln gerührt und nicken sich bestätigend zu. Es ist ein Alptraum!

Als die Studentin eine Stunde später als angekündigt Pia abholen kommt, habe ich mich soweit wieder gefangen, daß ich sogar schon die versaute Tastatur auswechseln kann.

"War sie brav?" erkundigt sich die Mutter mehr bei Pia als bei mir. 
"Wie ein Engel", erkläre ich sarkastisch und überblicke meinen versauten Schreibtisch.
Die junge Mutter bedankt sich enthusiastisch und steuert den Kleinkinderwagen auf autonom lenkbaren Zwillingsreifen zur Türe hinaus.
"Moment noch", rufe ich ihr nach. "Wenn Sie nochmal unbedingt einen Schein brauchen, dann sagen Sie es einfach, ok? Ich stelle Ihnen jeden, jeden Schein aus, den Sie möchten, klar?!"
 
---
zurück 
TEIL 14
zur Homepage der BASTARD Seiten     zum Kapitelbeginn weiter 
TEIL 48
---
Copyright © 1996 Florian Schiel * Webdesign: Schiel / Schütze