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02.12.1999 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
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Workshop
LEERstuhl Outing weiter 
Lunatic Vulture
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Das Leben könnte so wunderbar sein! 
Ich könnte gemütlich in meinem Büro sitzen, die Schutzschilde hochfahren und in aller Ruhe die Mailboxen der Verwaltung nach verwertbaren Informationen abscannen. Oder auch nur einfach eine Runde DooM spielen, oder mir eine DVD 'reinziehen, oder ... 
Statt dessen hänge ich hier auf dieser beschissenen Felszacke fest! Und die ist nicht mal 'virtual reality'; nein, die ist leider ziemlich real! Mehr als mir lieb ist! Und der Abgrund unter meinen Schuhen auch! 
Um diese idiotische Situation einigermaßen erklären zu können, muß ich etwas ausholen: 
Die Studentenzahlen sind infolge der anerkennenswert hartnäckigen Bemühungen unserer Bildungspolitiker zusammengeschmolzen wie Zitroneneis in der Augustsonne. Jedes dritte Seminar mußte dieses Semester aus Mangel an Teilnehmern ausfallen. Die Zauberformel heißt 'Studiengebühren'. So einfach ist das! Wahrscheinlich hoffen unsere Berufspolitiker, im Laufe der Zeit das mittlere Intelligenzniveau der Bevölkerung unter 70 IQ zu drücken; dumme Wähler sind bekanntermaßen leichter zu manipulieren als studierte Intelligenzbestien. Darüber hinaus bezahlen sie (ich meine die Dummen, nicht die Intelligenzbestien) brav ihre Knöllchen, von Steuern ganz zu schweigen, und sind schon vollends zufrieden, wenn es jeden Tag entweder Fußball, Tennis oder Formel I im Fernsehen gibt. 
Mir kann das nur recht sein. Erstens ist das Netz deutlich weniger belastet, wenn alle Bürger vor der Glotze hängen und sich ihre tägliche Dosis Massensport 'reinziehen, und zweitens bedeutet jedes ausgefallene Seminar für mich ein Gewinn von zwei Stunden zusätzlicher Freizeit auf Staatskosten. 
Das Leben könnte also wirklich wunderbar sein! (Ich sagte es ja bereits!) 
Könnte! 
Bekanntlich führt Müßiggang zu Unruhe im Geist und schlimmstenfalls sogar zu kreativen Ideen. Nichts ist schlimmer als ein Haufen kreativer Mitarbeiter! Aber da die anderen am LEERstuhl mangels Studenten nun mal genauso herumhängen wie ich, kommt es unweigerlich zu Situationen wie der folgenden:
Die versammelte Mannschaft (ohne den Chef, der wieder mal auf einer Rundtour durch Asien ist) sitzt friedlich beim Nachmittagskaffee zusammen. Plötzlich sagt der Kollege O. aus heiterem Himmel: 
"Jetzt, wo wir soviel Zeit haben, könnten wir doch endlich mal wieder einen Betriebsausflug machen. Wir hatten seit mindestens fünf Jahren keinen Betriebsausflug mehr!" 
Ich mache den Mund auf, um zu sagen, daß so etwas nur das ruhige Betriebsklima störe, aber Marianne kommt mir zuvor: 
"Auja! Das ist eine geniale Idee. Wir könnten ins Alpamare nach Bad Tölz fahren und uns den ganzen Tag verwöhnen lassen wie das letzte Mal!" 
Ich weise darauf hin, daß Betriebsausflüge generell ein großes Risiko darstellen und daß seit dem vorletzten Betriebsausflug vor acht Jahren, einer Raftingtour auf der Loisach, immer noch zwei Diplomanden als vermißt gelten, aber natürlich hört mir keiner zu. Alle stürzen sich auf die Idee wie ein Rudel völlig ausgehungerter Serengeti-Hyänen auf eine halbe Wagenladung gefrorener MacDonalds-Hamburger. 
Der Vorschlag vom Kollegen Rinzling, den neuesten Kernspin-Tomographen im Uni-Klinikum zu besuchen, erntet nur Hohngelächter. Auch Jennys Idee, eine Floßfahrt auf der Isar zu machen, wird als alter Hut abgetan. Frau Bezelmann schlägt vor, den LEERstuhl in zwei Mannschaften aufzuteilen und einen Military-Contest zu veranstalten. Aber Marianne und Jenny sind strikt dagegen, als sie erfahren, daß bei solchen Freizeitvergnügungen unter anderem mit roten Farbpatronen geschossen wird, die im schlimmsten Fall die ganze Frisur verderben könnten. 
"Ich weiß was", sagt Yogi Flop, unser esoterisch verdorbener Physiker, "wir machen ganz einfach ein Bergtour. Wozu wohnen wir ganz nahe an den Bergen? Eine richtige Bergtour mit Picknick am Gipfel!" 
Mir wird schon vom Zuhören übel! Hastig schlage ich als Alternative eine virtuelle Tour durch die heißesten Chatrooms des Internets vor. Schließlich sei das unserem Ruf als HighTech-Institut an der vordersten Front der Wissenschaft wohl eher angemessen als die Besteigung irgendeines doofen Gesteinshaufens, der schon seit Jahrmillionen nur so in der Landschaft herumsteht und der bestimmt schon Milliarden Male von irgendwelchen Idioten bestiegen wurde, deren Intelligenzquotient sich seit der Zeit der Neandertaler nicht mehr geändert hat. 
Wenn ich gewußt hätte, was jetzt als nächstes kommt, hätte ich natürlich das Maul gehalten. Der Kollege O. zieht die Stirne kraus und sagt: 
"Leisch hat recht. Eine einfache Bergtour ist langweilig. Wir sollten eine Erstbesteigung machen! Das wäre doch etwas richtig Zünftiges für einen Betriebsausflug!" 
Alle (außer Nero und mir) sind begeistert. 
Ich könnte den Kollegen O. erschlagen! Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich überhaupt etwas gesagt habe! 
Marianne wirft mir einen vielsagend-schrägen Blick zu und sagt schnippisch: 
"Aber daß diesmal nicht wieder die Hälfte einfach blau macht, so wie das letzte Mal ..." 
Ich erkläre würdevoll, daß ich auf Chlorwasser allergisch reagiere und deshalb beim letzten Gruppenersäufnis nicht dabei gewesen sei. 
"Aber gegen Berge kannst du schlecht allergisch sein", sagt Marianne triumphierend, "und im Herbst blüht auch nix mehr. Diesmal gibt's keine Ausreden!"
Zwei Wochen später sitze ich mit den anderen zusammengepfercht in einem vierradgetriebenen VW-Bus, der durch die Wildnis des Voralpenlandes rumpelt. Meine Füße tun mir jetzt schon weh von den ungewohnten Schraubstöcken, die die anderen 'Bergstiefel' nennen, und meine Stimmung ist auf ein Fünfzehn-Jahres-Tief gesunken. 
Der Kollege O. hat es tatsächlich geschafft, einen unbedeutenden Nebengipfel ausfindig zu machen, der angeblich noch niemals, jedenfalls nicht nachweislich, bestiegen worden sei. Als wir am Anstieg sind, und ich zu der ausgewählten Felsspitze hinauf blicke, verstehe ich auch sofort warum: nur ein vollkommener Idiot könnte auf die Idee kommen, da rauf zu kriechen, wenn unten im Tal eine gemütliche Hütte mit allem Komfort zu finden ist. Sogar eine Satellitenschüssel ist auf dem bäuerlichen Holzdach montiert. Ich schlage vor, die Operation von der Hütte aus mit dem Fernglas zu lenken und dem Team strategische Anweisungen über Walkie-Talkie zu geben, aber davon will niemand was wissen. Seufzend lasse ich den Laptop und die Funkgeräte im Wagen und nehme nur den Palmtop mit dem Funkmodem mit.
Zwei Stunden später sind wir immer noch genauso weit von der blöden Felszacke entfernt wie vorher, und alle sind völlig fertig vom Klettern durch das unwegsame Gelände. Als wir eine Verschnaufpause einlegen, sehe ich eine winzige weiße Wolke am sonst ekelhaft blauen Himmel auftauchen (genau dasselbe ekelhafte Blau übrigens wie in Windoofs 98!). 
"Vielleicht gibt's ja ein Gewitter", keuche ich hoffnungsvoll und deute auf die Wolke. 
"Unmöglich!" japst Marianne, "der Wetterbericht ..." 
"Wann hast du denn den Wetterbericht gehört?" erkundige ich mich unschuldig. 
"Äh ... gestern ..." 
"Na, da kann sich aber einiges getan haben, seit gestern. Ist ja bekannt, daß das Wetter in den Bergen blitzschnell umschlagen kann, oder nicht?" 
Die anderen müssen zögernd zugeben, daß dem so ist. 
"Also", sage ich und hole meinen Palmtop und das Funkmodem heraus. "Dann sollten wir mal den neuesten Bergwetterbericht abrufen ..." 
Ich klicke mich in die Seiten des Alpenvereins und reiche das Gerät an Frau Bezelmann weiter, damit niemand behaupten kann, ich würde den Wetterbericht schlechter machen, als er ist. 
(Frau Bezelmann ist übrigens heute trotzdem in Military-Outfit erschienen: Khaki-Kampfanzug und Springerstiefel; Nero klammert sich an ihrem Stahlhelm fest. Wahrscheinlich will sie damit stumm zum Ausdruck bringen, daß sie ihren Vorschlag immer noch für den besseren hält ...) 
"Bergwetterbericht bis heute abend", liest Frau Bezelmann laut vor, "Von Nordosten nähert sich rasch eine Kaltfront, die im Laufe des Tages auf den Alpennordkamm trifft. Vormittags noch weitgehend sonnig und kein Niederschlag; nachmittags heftige Gewitter teilweise mit Hagel und Absinken der Schneefallgrenze auf unter 800 Meter; Sturmvorwarnung Stufe II für folgende oberbayerische Seen ..." 
"Oh!" sagt Jenny entgeistert, "ist das wirklich der Wetterbericht von heute?" 
Frau Bezelmann bestätigt das heutige Datum auf der Web-Page und drückt zur Sicherheit nochmal auf den 'Reload-Button'. Alle schweigen betroffen (außer mir: ich schweige unbetroffen!). 
Was niemand wissen kann: Diese Variante des Wetterberichts habe ich gestern nacht in den Cache des Palmtops geladen und die Proxytabellen ein wenig manipuliert. 
Wie auf ein Kommando drehen sich plötzlich alle um und starren auf das harmlose Wölkchen am Horizont. 
"Ich glaube, sie ist größer geworden", bemerkt Jenny nervös, "meint ihr nicht?" 
Auch der Kollege Rinzling meint, daß es besser wäre, kein Risiko einzugehen. Er habe keine Lust, sich in einem Schneesturm die dritte Lungenentzündung dieses Jahr zu holen. Schließlich läßt sich auch der Kollege O., als inoffizieller Leiter der Erstbesteigung, zögernd dazu überreden, daß man besser absteigen sollte, bevor der Blizzard losbreche. 
"Gut", 
sage ich betont neutral, obwohl ich innerlich triumphiere, und gucke mich nach dem Abstieg um. Dabei stolpere ich über eine dieser teufelszähen Latschenwurzeln, verliere das Gleichgewicht, renne ein Stück den Abhang hinab, um nicht der Länge nach hinzuschlagen ... tja, und plötzlich ist da nichts mehr, um darauf zu rennen! 
Ein paar Sekundenbruchteile lang erfahre ich am eigenen Leibe den Horror aller bemitleidenswerten Leute, die aus Versehen in das Flugzeug einer Fallschirmspringerschule geraten sind. 
Dann lande ich mit einem gewaltigen Krachen, das mir alle Knochen durchschüttelt, auf einem kleinem Felsvorsprung, kaum drei Meter unterhalb der Felskante, über die ich gerade hinweg gesegelt bin. Jetzt kann ich die lächerlichen Monster in Dumb Riders etwas besser verstehen, daß sie immer so grauenhaft brüllen, wenn man sie in den Abgrund stößt. Hier brüllt jemand ganz ähnlich. Ein paar Sekunden später merke ich, daß ich es selbst bin. 
"Leisch! Bist Du ok?!" brüllt jemand irgendwo über mir. 
"Ganz prima!!!" brülle ich zurück und klammere mich so fest es geht an den Felsbrocken, auf dem ich gelandet bin. "Ich genieße wirklich jede Sekunde dieses Betriebsausflugs!!!" 
Während die Kollegen oben beratschlagen, wie man mich wieder hinauf bringen könnte, gucke ich vorsichtig nach, warum es da so um die Ecke zieht. Als ich die atemberaubende Aussicht in 200 Metern Tiefe erblicke, mache ich die Augen ganz schnell wieder zu und verfluche stumm für eine Million Male den Kollegen O. und seine grandiose Idee einer Erstbesteigung. 
Und deshalb hänge ich jetzt auf diesem sehr realen Felsvorsprung und warte, daß man mich rettet. 
Schließlich brüllt der Kollege O.: 
"Wir haben leider nichts, um dich heraufzuziehen! Wir versuchen, über dein Funkmodem die Bergwacht zu alarmieren. Aber da kommt immer so eine komische Proxy-Fehlermeldung!" 
Mist! Ich hab' ja den Palmtop so konfiguriert, daß er nur noch aus dem Cache liest. 
"Ihr müßt den Cache komplett löschen, dann die Proxies austragen und dann neu booten!" brülle ich. 
"Was?! Ich verstehe nicht ... Ich soll mich als root einloggen?!" 
"Den Cache löschen!!!" 
"Was für einen Cache denn?!" 
Manchmal könnte man an der Dummheit der Leute verzweifeln, nicht? In diesem Augenblick kommt 'zufällig' ein Hubschrauber der Gebirgsjägerkompanie Mittenwald um die Ecke und nimmt sich unser an. Wahrscheinlich hat mein Supervisor im 7. Höllenkreis mitbekommen, in was für einer blöden Klemme ich gerade stecke, und hat einem B.M.f.H. ('Bastard Military from Hell') einen Tip gegeben. Na, das wird wieder ein hübscher Eintrag in meiner höllischen Personalakte werden ...
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