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18.02.2000 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
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Ice and Fire
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Micro Blondy
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Seit der Unheimlichen Begegnung mit dem renitenten Rentner letzte Woche ist mein Bastard Cruiser from Hell immer noch in der Werkstatt. Unglaublich, was so ein moderner Titanium-Krückstock alles anrichten kann! Die Motorhaube total verbeult, der linke Scheinwerfer und beide Rücklichter zertrümmert! Naja, meine Hupe ist vielleicht wirklich etwas zu kräftig eingestellt ... Aber irgendwie sind die Rentner heute auch nicht mehr die Tattergreise von anno dazumal! So was von fit! Muß an der Gesundheitsreform liegen. Oder der Pflegeversicherung? Auf jeden Fall ist bestimmt auf die eine oder andere Weise die Regierung daran schuld, daß ich jetzt hier in der stinkenden U-Bahn zur Arbeit dackeln muß! (Merke: die Regierung ist IMMER schuld! Das ist schon seit der Jungsteinzeit so. Eigentlich überhaupt seit es Regierungen gibt, sind sie vor allen Dingen bequeme Sündenböcke für alle Arten von Malheuren, die einem so täglich widerfahren.)
Außerdem ist die Schuld der Regierung immer ein guter Anfang für eine Unterhaltung in der U-Bahn. Als die U-Bahn heute morgen das zweite Mal im Tunnel stecken bleibt, bemerke ich beiläufig zu niemandem Bestimmten: 
"Liegt garantiert an der neuen Regierung, daß dauernd die U-Bahn stecken bleibt!" 
Das Männlein auf dem Sitz mir gegenüber hebt den Blick von der AZ und mustert mich kritisch. Nach einer zu langen Pause sagt er plötzlich herausfordernd: 
"Wetten, daß ich nach Ihnen aussteigen werde?" 
Ich betrachte das Männlein interessiert. Es ist ziemlich verhutzelt, fast kahl bis auf einen dichten Kranz borstiger Haare um die riesigen Ohren, hat ein dreieckiges Gesicht mit hoher faltiger Stirne und scharfe Augen, die aufmerksam über eine total verschmierte Lesebrille blicken. 
"Ich wette mit Ihnen, daß ich nach Ihnen aussteigen werde", 
wiederholt mein Gegenüber mit seiner komisch quietschenden Stimme und stopft mit resoluten Bewegungen die AZ in die Manteltasche, ohne mich aus den Augen zu lassen. 
"Ok", sage ich bereitwillig, "um was wetten wir denn?" 
"Das ist völlig irrelevant", schüttelt das Männlein den Kopf. "Wichtig ist, daß mir Ihre Gesichtsform nicht gefällt: sie ist für Ihren Beruf zu rund!" 
"Interessant", gebe ich zu, "woher wissen Sie denn, was für einen Beruf ich habe?" 
Er räumt ein, daß er meinen Beruf gar nicht kenne. 
"Aber das ist irrelevant", erklärt er kühl, "wichtig ist, daß Sie für Ihren Beruf einen zu runden Kopf haben und daß ich nach Ihnen aussteigen werde!" 
"Ihre Gesichtsform ist auch nicht rund", bemerke ich nach zehn Sekunden, um das Gespräch am Laufen zu halten. 
"Natürlich nicht!" entrüstet er sich und funkelt mich über die Ränder seiner Lesebrille an. Die Haare um seine spitzen Ohren sträuben sich ein ganz klein bißchen. 
Die Station Universität wird angekündigt, und ich stehe auf und drängele mich durch die Massen spät-pubertierender Studenten in Richtung Ausgang. Sofort steht der Typ gegenüber auch auf und hängt sich an mich dran. 
"Augenblick mal!" sage ich und bleibe stehen. "Sie wollten doch nach mir aussteigen!" 
"Ich werde ja auch nach Ihnen aussteigen", erklärt er giftig. "Ich gewinne meine Wetten immer. Das ist mein oberstes Prinzip!" 
"Aber das ist doch gegen die Regel", protestiere ich lautstark, "Sie müssen bei der nächsten Station aussteigen, wenn Sie die Wette gewinnen wollen!" 
Die umstehenden StudentInnen beginnen, vorsichtig von uns beiden abzurücken. 
"Keineswegs", geifert der Giftzwerg mit dem dreieckigen Gesicht. "Ich habe nur gewettet, daß ich NACH Ihnen die U-Bahn verlasse! Und das werde ich auch!" 
Die U-Bahn hält und die Türen rauschen auf. Ich rühre mich nicht vom Fleck. 
"Nun?" fragt er ungeduldig und stupft mich in den Rücken. 
"Ich denke gar nicht daran!" erkläre ich kategorisch. "Ich pflege meine Wetten nämlich auch zu gewinnen ..." 
"Aber das ist doch Ihre Station! Sie steigen jeden Tag hier aus ..." 
"Und außerdem glaube ich, daß Sie sich irren: nicht mein Gesicht ist zu rund, sondern Ihr Gesicht ist zu dreieckig!" 
"W ...!" dem Männlein bleibt die Luft weg vor Empörung. "Das ist doch wohl ...!" 
Die Türen rauschen zu. 
"Jetzt haben Sie Ihre Station verpaßt!" 
"Stimmt!" kontere ich gelassen. "Sie aber auch!" 
"Woher ...?" 
"Ich bin nicht blind", erkläre ich eisig. "Sie fahren seit einer Woche jeden Morgen in meinem Wagen bis zur Uni und steigen da aus." 
Ich suche mir einen freien Platz gegenüber einer aufgeschlagenen Süddeutschen Zeitung und setze mich wieder. Der Gnom folgt mir auf den Fersen. Ich bemerke, daß er hinkt. 
"Was tun Sie da?" zetert er. 
"Ich bleibe jetzt solange hier sitzen, bis Sie verschwunden sind", erkläre ich. "Wollen doch mal sehen, wer den längeren Atem hat ..." 
Mein Gegner stampft vor Wut auf den Boden. Es klingt wie ein Schlag mit einem mittelschweren Schmiedehammer. Die Süddeutsche mir gegenüber senkt sich langsam, und zwei kleine blaue Schweinsäuglein erscheinen über dem oberen Rand der Zeitung und irren unsicher zwischen uns hin und her. 
"Ich werde Sie schon noch dazu kriegen, vor mir auszusteigen", giftet das Männlein und zerrt wütend an der Haltestange. 
"Nichts zu machen", sage ich betont ruhig, um ihn noch mehr auf die Palme zu bringen. 
Die Süddeutsche gegenüber faltet sich ganz rasch zusammen, steht auf und drängt sich vor zur nächsten Plattform. Der Gnom hüpft sofort auf den freien Platz. Er trägt überlange Schlaghosen, so daß die Schuhe völlig verdeckt sind. Seine Füße müssen merkwürdig kurz sein ... 
Die Türen rauschen auf. 
Eine Gruppe Kontrolleure steigt zu. Wie üblich sind sie als verkleidete Kontrolleure verkleidet und somit leicht auszumachen. Die gewohnheitsmäßigen Schwarzfahrer verlassen hastig die Plattformen, bevor die Türen wieder zurauschen. 
"Die Fahrscheine bitte vorzeigen!" 
Ich zeige meine Netzkarte vor. Die Kontrolleuse, Typ untersetzte Hilfsbuchhalterin aus der Stadtkämmerei, die sich bei jeder Gelegenheit freiwillig zur U-Bahn-Kontrolle abstellen läßt, weil sie da Schwarzfahrer zur Sau machen kann, anstatt von Ihrem Bürovorsteher zur Sau gemacht zu werden, die Kontrolleuse knurrt mich warnend an: 
"Die gilt aber nur noch bis zur übernächsten Station!" 
Ich teile ihr mit, daß mir das bekannt sei. 
Mein Gegner gegenüber zeigt eine Streifenkarte vor. Die Hilfsbuchhalterin zieht erfreut die Augenbrauen zusammen. 
"Sie ham nur eine Kurzstrecke gestempelt, san aber schon vier Stationen gefahren. Die is nimmer gültig. Ich muß Eahna ein erhöhtes Beförderungsentgeld ausstellen. Sechzig Mark macht des. Kommens, steigens mit uns aus, dann kann ich den Schein ausstellen!" 
"Ich kann aber nicht aussteigen!" zetert der Gnom. 
"Wieso denn net?" 
Der Gnom fuchtelt aufgeregt mit seinen Gichtfingern in meine Richtung: "Ich kann erst nach dem da aussteigen!" 
Die Türen rauschen auf. 
Die Kontrolleuse schaut mich verblüfft an: "Und wann steigen Sie aus?" 
Die Türen rauschen wieder zu. 
"Ich weiß es noch nicht", sage ich und verschränke gemütlich meine Arme, "auf jeden Fall erst nach dem Herrn da gegenüber!" 
Die Hilfsbuchhalterin schaltet mit zusammengezogenen Augenbrauen noch mal 87 Gehirnzellen hinzu (das war die stille Reserve!). "Aber Ihre Netzkarte gilt nur noch bis zur nächsten Station!" sagt sie dann. 
Das Männlein hüpft aufgeregt auf seinem Sitz auf und ab. "Ja, ja! Genau!" kreischt es. "Der Kerl darf nicht weiter als bis zur nächsten Station, nicht wahr? Aber wenn ich das erhöhte Beförderungsentgeld bezahle ..." 
"Ich zahle auch das erhöhte Beförderungsentgeld!" unterbreche ich eiskalt und wedele der Kontrolleuse mit einem Hunderter vor der Nase herum. "Damit kann ich sogar bis zur Endstation fahren, nicht wahr?" 
"Äh ..." 
"Neiiiiin!" 
Der Gnom wird allmählich rebellisch. Er schüttelt den Kopf vor Wut. Infolge der heftigen Bewegungen verrutschen seine braunen Kontaktlinsen kurzzeitig und lassen ein giftiges Gelb mit senkrechten Schlitzpupillen durchschimmern. Die anderen Kontrolleure werden aufmerksam und versammeln sich um uns herum. Die Hilfsbuchhalterin erklärt hastig, worum es geht. 
Ein gesetzter Herr schräg gegenüber mit zwei Rauhhaardackeln und ZEIT mischt sich ein: 
"Natürlich kann der Herr bis zur Endstation fahren, wenn er das erhöhte Beförderungsentgeld bezahlt hat. Das ist ..." 
Einen Moment lang reden alle durcheinander. Die Türen rauschen auf und wieder zu. Dann einigen wir uns alle, daß beide, das heißt der Gnom und ich, sechzig Mark zu bezahlen haben und damit weiterfahren dürfen, solange wir wollen. Die Kontrolleure und der Herr mit dem Dackeln steigen bei der nächsten Station aus. Wir sitzen uns schweigsam gegenüber und beobachten uns feindselig, ob vielleicht einer Anstalten macht aufzustehen. 
Es wird allmählich leerer in unserem Wagen. Drei Stationen vor der Endstation sind wir ganz alleine. Ich beuge mich vertraulich nach vorne: 
"Ich möchte Ihnen einen guten Rat geben." 
Er vergräbt sein spitzes Kinn noch tiefer im Kragen seines schmutzigen Wollmantels und beäugt mich mißtrauisch durch seine braunen Kontaktlinsen. 
"Was?" 
"Sie waren ganz offensichtlich bis vor kurzen in der Abteilung Mediavistik beschäftigt ..." 
Der Gnom hebt wachsam den Kopf. 
"... und haben scheint's für Ihr neues Einsatzgebiet den falschen Leitfaden mitgenommen." 
Die vorletzte Station wird angekündigt. Ich beuge mich noch weiter vor: 
"Mann!" raune ich ihm verschwörerisch zu. "Das ist das einundzwanzigste Jahrhundert! Sie können hier doch nicht einfach mit dreieckigem Gesicht und gelben Schlitzaugen aufkreuzen! Wenn ich das Ihren Vorgesetzten melde ... mein lieber Schwan! Sie werden schneller wieder bei der Mediavistik sein, als sie 'Piep!' sagen können! Und was Sie da unten erst haben ..." 
Mit diesen Worten packe ich ihn am rechten Hosenbein. Die Türen rauschen auf. Der Gnom reißt sich mit erstaunlicher Kraft los, trampelt mir brutal auf den linken Fuß und stürmt in Panik aus der U-Bahn. 
Viel später, als ich mühsam in mein Büro humpele, fängt mich Marianne auf dem Gang ab. 
"Wo hast du denn heute morgen gesteckt? Und was ist mit deinem Bein passiert?" 
"Nichts weiter", wehre ich ab, "nur ein Tritt mit einem Pferdefuß!" 
"Pferdefuß!" wiederholt Marianne kopfschüttelnd in dem Tonfall, der sagen soll: jetzt hat's ihn endgültig erwischt, und verschwindet in ihrem Büro. 
Wie gesagt: ich pflege meine Wetten auch zu gewinnen - selbst Kollegen gegenüber!
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