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09.04.2003 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
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ACDC
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Alle sieben Monate schaue ich mal im Sekretariat nach, ob sich vielleicht ein Scheck in meine aufgehäufte Post verirrt hat. Frau Bezelmann pflegt die Post immer auf ihren Monsterkaktus zu spießen, damit sich die Mitarbeiter alle Extremitäten perforieren, wenn sie versuchen, an ihre Post zu kommen. Als Gegenmaßnahme hole ich jetzt meine Post nur noch alle sieben Monate ab, und Frau Bezelmann hat hoffentlich bald das Problem, daß ihr blöder Kaktus an Lichtmangel eingeht! 
Wenn es so einfach wäre! Nachdem meine Post allmählich die Ausmaße des Mt. Everest angenommen hatte, hat Frau Bezelmann sich von den Festkörperphysikern eine ausgediente 1200-Bar-Hochdruckpresse besorgt, mit der sie jetzt meine Post zu handlichen Würfeln mit 11 Zentimeter Kantenlänge zusammen stampft, die sie auf dem Fensterbrett aufbewahrt (draußen!). Zum Glück überleben die Schecks - das einzig Wichtige in meiner Post - diese Prozedur weitgehend unbeschadet; es ist nur jedesmal ein Glücksspiel herauszufinden, in welchem Würfel überhaupt ein Scheck sein könnte. 
Ich poke also gerade mit einem Brieföffner in einem vielversprechend aussehenden Preßpapierwürfel herum, als plötzlich ein Null-Kelvin-Hauch meinen Kragen hinab sickert, und ein leises höhnische Krächzen ertönt. Frau Bezelmann atmet mir in den Kragen, und der Rabe Nero sitzt wie üblich auf ihrer Schulter. Beide strahlen mich an - ein Anblick, der jeden mit einem nicht so gefestigten Nervenkostüm wie mich veranlaßt hätte, sich schreiend aus dem Fenster zu stürzen. 
"Ich sssoll Ihnen vom Chef wasss ausssrichten", 
zischelt Frau Bezelmann mit blitzenden Augen. Wenn sie so begeistert und noch dazu freiwillig darauf aus ist, einen Auftrag des Chefs auszuführen, kann das nur bedeuten, daß der Auftrag die Unannehmlicheitsstufe 12 (auf der nach oben hin offenen Bezelmann-Skala!) überschreitet. 
Frau Bezelmann informiert mich ausführlich, daß der Chef heute plötzlich zu einem extrem wichtigen Experten-Hearing nach Berlin geflogen sei, und ich deshalb seine heute fällige mündliche Prüfung übernehmen müsse. 
"Und Ihr Beischschschläfer issst der Kollege Rinzzzling", 
beendet Frau Bezelmann genüßlich ihre Hiobsbotschaft. 
'Beischläfer' ist der am LEERstuhl gebräuchliche Euphemismus für 'Beisitzer', also der zweite Prüfer in einer mündlichen Prüfung, der die ganze Zeit dumm 'rumsitzt und versucht, keinen Gähnkrampf zu bekommen. 
Ich versuche äußerlich cool zu bleiben, während mein Kleinhirn fieberhaft nach Ausreden sucht, die vor Frau Bezelmann Stand halten könnten. Leider ohne Erfolg. Und der Bastard Ausredenkalender liegt nutzlos drüben in meinem Büro. Scheiße! 
Ich trotte also zum Büro des Kollegen Rinzling und bumpere gegen die antiseptisch versiegelte Tür, bis er endlich einen winzigen Spalt weit aufmacht. 
Ich informiere ihn mit dürren Worten, daß wir in zwanzig Minuten eine Prüfung abzuhalten haben. Der Kollege Rinzling starrt mich entsetzt an und läßt vor Schreck sogar seine Atemschutzmaske fallen. 
"Aber ... aber ... das geht nicht ... weil ..." 
Ich sehe, daß sein Kleinhirn verzweifelt nach möglichen Ausreden sucht. Vielleicht sollte ich dem Kollegen Rinzling mal eine Kopie des Bastard Ausredenkalenders zu kommen lassen? Nee, lieber nicht! Je weniger das Ding Verbreitung findet, desto besser für mich! 
Eine halbe Stunde später betrete ich die 'Folterkammer' (= Büro des Chefs, wo normalerweise die mündlichen Prüfungen abgehalten werden) und begrüße die Prüfungskandidatin, eine kleine hübsche Brünette, deren Augen sich bei meinem Anblick entsetzt weiten. 
"Aber ... ich dachte ... äh ... es war doch ..." 
stottert sie entsetzt und zupft nervös ihren viel zu kurzen Rock über die Schenkel. 
Ich teile ihr lakonisch mit, daß ich heute den Chef vertreten müsse und lasse mich in den Sessel des Chefs fallen; sie wird kalkweiß und fällt beinahe vom Stuhl. Ich rate ihr, tief durchzuatmen und an etwas wirklich Nettes zu denken; dann gehe ich und hole ihr ein Glas Wasser, damit mein Anblick sie nicht am Denken hindert. 
Als ich zurückkomme, hat man sich so einigermaßen wieder gefangen, und der Kollege Rinzling ist immer noch nicht da. Während wir warten, versuche ich die gespannte Atmosphäre durch Small-Talk aufzulockern. 
"Kennen Sie mich?!" 
herrsche ich sie an. Die Kandidatin läßt beinahe das Glas fallen, dann nickt sie gottesergeben. 
"Dann wissen Sie ja, wie ich zu prüfen pflege ... ah, da kommt ja endlich unser Herr Beischläfer ... Entschuldigung ... der Herr Beisitzer ..." 
Tatsächlich hat sich die Türe geöffnet und ETWAS hat den Raum betreten. Ob es der Kollege Rinzling ist oder überhaupt ein menschliches Wesen, ist für den ungeübten Beobachter allerdings nur schwer zu erkennen. Er trägt einen grünen Vollkörper-OP-Anzug mit Gummihandschuhen, blaue OP-Plastikgamaschen über den Schuhen und ein mittelschweres Atemschutzgerät, das seinen Kopf komplett umhüllt. Zusammen mit dem röchelnden Atemgeräusch der Sauerstoffversorgung ergibt sich im Gesamteindruck ein Mittelding zwischen Dr. Brinkmann und Darth Vader, was die Kandidatin sicher beruhigen wird. Rinzling reicht mir den desinfizierten Fragenkatalog des Chef. Um die Form zu wahren, werfe ich einen kurzen Blick hinein, bevor ich ihn in den Papierkorb fallen lasse. Ein echter Assistent braucht in Prüfungen keine Spickzettel mehr! 
"Also", sage ich ernst, "Sie wissen ja: die Notenskala geht von 0 bis einer Million; eine Million bedeutet ein glattes 'sehr gut', weniger als 500000 heißt ... naja, daran wollen wir jetzt lieber gar nicht denken, nicht wahr? Ist der Herr Beischl... Herr Beisitzer bereit? Gut! Dann beginnen wir wie immer mit der 50000-Punkte-Frage. Und die ist natürlich traditionell was ganz einfaches: Was ist Strom?" 
Die Kandidatin starrt mich an, als ob ich von ihr verlangt hätte, die Upanischaden rückwärts und in sumerischer Keilschrift wiederzugeben. 
"W... was Strom ist?" 
"Genau! Das will ich von Ihnen wissen. Ist es 
  1. eine große Menge sich in einer Richtung bewegendes Wasser
  2. negative Ladungen, die sich in einer Richtung bewegen
  3. positive Ladungen, die sich überhaupt nicht bewegen oder
  4. negative Einladungen, die sich alle in der anderen Richtung bewegen?"
 
Die Kandidatin bewegt lautlos die Lippen, dann flüstert sie kaum hörbar: 
"B?" 
Ich drücke auf einen Knopf und eine Fanfare schmettert mit 130 dB aus der privaten HiFi-Anlage des Chefs. Man hört deutlich, wie sich der rechte Hochtöner verabschiedet. Die Kandidatin hopst vor Schreck 15 Zentimeter hoch, und der Kollege Rinzling fällt rücklings vom Stuhl. 
"Höhmmöhmömnmön mönmöhm möhn!" 
sagt er wütend, als ich ihm helfe, den verhakten Schlauch des Atemschutzgeräts aus dem umgestürzten Garderobenständer zu befreien. 
"Genau!" 
sage ich fröhlich. 
"Das war richtig! Der Herr Beisitzer hält im Protokoll fest: die Kandidatin hat 50000 Punkte! Und schon kommen wir zur 100000-Punkte-Frage: Warum fließt der Strom? Ist es 
  1. weil der Leiter des Anliegers gewisse Potentiale hat
  2. weil ein Potentat ein gewisses Anliegen auf der Leitung hat
  3. weil ein gewisses Potential an einer Leitung anliegt oder
  4. weil der Strom sofort gefeuert wird, wenn er nicht fließt?"
 
Die Kandidatin zögert, Schweißtropfen rinnen in ihr dürftiges Dekollete. 
"Lassen Sie sich ruhig Zeit", 
sage ich ungnädig und trommele SOS-Morsezeichen auf den Prüfungstisch. 
"Äh ..." 
"Jaa?" 
"Ich weiß nicht ..." 
Ich lehne mich genüßlich zurück. 
"Sie wissen, Sie haben die Möglichkeit, genau einmal die Frage an den Herrn Beischl... an den Herrn Beisitzer weiterzugeben ...", 
der Kollege Rinzling röchelt abwehrend, 
"... oder eine Email an einen Helfer Ihrer Wahl zu schicken. Diese muß aber innerhalb von 300 Sekunden beantwortet werden ..." 
"C", 
haucht die Studentin fast unhörbar. 
"Wie?" 
frage ich enttäuscht. 
"C." 
"Tja, ist das richtig? Nach der Werbung wissen wir mehr ... Hahaha, nur ein kleiner Scherz am Rande. Das war natürlich richtig! Der Herr Beisitzer hält fürs Protokoll fest: die Kandidatin hat 100000 Punkte. Und schon kommen wir zur 250000-Punkte-Frage: Wann fließt der Strom sicher nicht? Ist es 
  1. wenn der Potentialdamm den Schutzleiter durchtrennt hat
  2. wenn der Potentialdamm höher ist als die Ableitung des magnetischen Durchfluß dividiert durch das Integral des Tensorbetrags der magnetischen Flußdichte
  3. wenn der Damm höher ist als die Differenz aus Integral über Zuflußmenge und Abflußmenge dividiert durch Grundfläche des Stausees oder
  4. wenn der Potentialdamm größer ist als 42?"
 
Ich sehe an den Augen der Kandidatin, daß sie schon bei b) die letzte Hoffnung aufgegeben hat, diese Prüfung aus eigener Kraft zu bestehen. Das ist bei dieser Frage eigentlich immer so. Flehentlich richtet sie ihren Blick auf den Kollegen Rinzling. 
"Kann ich diese Frage an Sie weitergeben?" 
lispelt sie verzweifelt. 
Der Kollege Rinzling röchelt so heftig wie Darth Vader bevor er in Teil III von seinem eigenen Sprößling erledigt wird. (Ich bin ein großer Fan von Darth Vader. Ich muß mich immer gewaltsam zurückhalten, daß ich dem Kollegen Rinzling in dieser Verkleidung nicht ganz spontan mit meinem Flammenschwert zu Hilfe komme.) Rinzling überlegt einen Augenblick angestrengt, dann sagt er entschieden: 
"Möhm!" 
Das kann jetzt alles heißen, und ich könnte somit die Prüfung zu einem für alle wesentlichen Parteien befriedigendem Ende bringen. Aber ich möchte die Kandidatin noch ein wenig im eigenen Saft kochen lassen. Wann hat man schon die Gelegenheit, innerhalb einer Stunde fünf Kilo abzunehmen, ohne auch nur mit dem kleinen Zeh zu wackeln? 
"C!" 
rufe ich also, 
"Das ist richtig! Die Kandidatin hat 250000 Punkte. Und nun zur alles entscheidenen 500000-Frage. Die magische Schallgrenze sozusagen, hähähä ... Alles oder nichts. Der große Preis, nicht wahr?" 
Die Kandidatin fällt bei jedem Satz um zwei weitere Zentimeter in sich zusammen. Wäre interessant, ob sich das unbegrenzt fortsetzen ließe; vielleicht säße irgendwann nur noch ein Bündel durchgeschwitzter Klamotten auf dem Prüfungsstuhl? Aber leider fallen mir keine blöden Sprüche mehr ein. 
"Äh ... also die Frage lautet: Welche der folgenden Aussagen ist möglicherweise nicht ganz falsch: 
  1. der potentielle Leiter dämmt sich gegen den Stromfluß
  2. der Potentialdamm leitet fließende Potentaten
  3. der fließende Strom potenziert sich im gedämmten Leiter
  4. der Potenzfluß strömt gegenleitend über den Damm?"
 
Die Kandidatin macht natürlich von ihrem Email-Recht Gebrauch; darauf hätte ich meine ganze DVD-Sammlung verwettet. Während der Kollege Rinzling auf die Stoppuhr aufpaßt, und die Kandidatin bibbernd darauf wartet, daß mein kleiner Dämon im Mailserver die falsche Antwort zurückschickt, gehe ich hinüber ins Sekretariat. 
"Ist das da nicht ein Rabe, da auf dem Versuchsaufbau der Nuklearphysiker?" 
rufe ich, und während Frau Bezelmann kurzsichtig aus dem Fenster späht, klaue ich mir aus ihrer Kaffeemaschine die letzte Tasse Kaffee. 
Als ich zurück in die 'Folterkammer' komme, ist die Antwortmail bereits da. Bevor die Kandidatin noch den Mund aufmachen kann, sage ich bedauernd(sic!): 
"Leider falsch!" 
"Aber ... aber ... ich habe doch noch gar nicht ... ich habe doch gar nichts gesagt ..." 
"Na, was wollten Sie denn sagen?" 
frage ich ungnädig. 
"D." 
"'Der Potenzfluß strömt gegenleitend über den Damm?'", 
sage ich sarkastisch, 
"Mal ganz ehrlich: Haben Sie schon jemals in Ihrem kurzen Leben einen solchen Blödsinn gehört? Vom Fernsehen mal abgesehen ..." 
Beim Hinsetzen bleibe ich aus Versehen an Rinzlings wuchernden Sauerstoffschläuchen hängen, und irgendetwas macht 'Plop!', und es fängt vernehmlich an zu zischen. Der Kollege Rinzling schreit: 
"Möhm! Möhn!!!" 
und schießt wie ein antiseptisch eingekleideter Kugelblitz aus dem Prüfungszimmer. 
"Ich denke", 
sage ich grimmig, 
"er hat Ihnen gerade viel Glück für die Wiederholungsprüfung gewünscht." 
Um die geknickte Kandidatin etwas aufzumuntern, schiebe ich sie zu Frau Bezelmann ins Sekretariat. Die kann ihr dann erzählen, daß die Wiederholungsprüfung garantiert vom Chef persönlich durchgeführt wird. Das ist immer so, angeblich nur damit überhaupt noch irgendwelche Studenten an unserem LEERstuhl die Hauptprüfung bestehen ...
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