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23.05.2003 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
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ACDC
Bastard Stocks weiter 
Moving Chaos
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Ich rolle den Kollegen Rinzling im Park hinter der Glyptothek spazieren. 
"Ich habe Zahnweh", 
murmelt der Kollege O. hinter seiner SARS-Schutzmaske. Ich versuche nicht hinzuhören. 
"Ich habe Karies!" 
sagt der Kollege O. laut quengelnd. Ich seufze. 
"Das hat doch jeder mal." 
"Aber ich hab's auf meinen dritten Zähnen!!" 
Die anderem im Büro haben gesagt, ICH sei primär für Rinzlings derzeitigen Zustand verantwortlich, also sei ICH es auch, der ihn spazierenrolle. Dieser Logik soll man mal folgen! Aber die soziale Front war diesmal so mächtig, daß ich in den sauren Apfel beißen mußte. Wir rollen also gemächlich hinter der TU Mensa hin und her; der Kollege Rinzling niest pflichtbewußt unter jeder blühenden Kastanie - man ist schließlich Allergiker - und erholt sich von seinem Angina-pectoris-Anfall, an dem angeblich ich schuld sein soll. 
Das kam so: 
Am LEERstuhl ist ganz plötzlich und ohne wirtschaftlichen Anlaß das Spekulationsfieber ausgebrochen. Vermutlich war es der Kollege O., der die Theorie aufbrachte, wenn die Börsenkurse so niedrig seien wie jetzt, dann biete die relative Schwankung derselben prozentual ein viel höheres Potential zu Spekulationsgewinnen, als wenn die Aktienkurse sehr hoch seien. 
"Wenn die Telekom-Aktie nur um 2 Euro 'raufgeht, sind das ganze 10%", 
erläutert er beim Kaffeetrinken begeistert. 
"Früher hat es das nur ganz selten gegeben, weil der Kurs so hoch war; jetzt passiert das jede Woche mal." 
Die unausweichliche Folge: Auf allen Schirmen tickern die Aktienkurse, jede Workstation ist zur Hälfte nur noch damit beschäftigt, irgendwelche blöden Brokerseiten zu laden. 
Im Prinzip wäre mir das ja egal; sollen die Leute sich nur selber ruinieren, dann habe ich weniger zu tun und es macht sich gut in der Statistik. Aber die ganzen Börsenticker belasten mein Netzwerk, und inzwischen muß ich schon bis zu hundert Sekunden warten, bis das nächste Raubvideo geladen ist. Unerträglich! 
Ich sniffe ein wenig im Netzwerk herum und stelle fest, daß die ganzen Datenpakete für die Ticker über unseren Proxy laufen. (Wer nicht weiß, was ein 'Proxy' ist, der sollte beim nächsten Familienkaffee seine Tante Erna/Luise/Adelheide/Galaxia fragen. Sie weiß es bestimmt! Und wenn nicht, dann war es wenigstens der einzige konstruktive Gesprächsbeitrag beim Familienkaffee.) Ich gehe in den Proxy-Rechner und füge ein einfaches Filter ein, das die Aktienkurse nach meinen Vorgaben nach unten oder oben korrigiert. Günstigerweise kann ich im Datenverkehr genau sehen, für welche Aktien sich die Mehrzahl meiner Mitarbeiter interessieren. 
Kurz nach der Mittagspause: alle hängen schlaff in ihren Bürosesseln, verdauen mühsam den Cafeteria-Glob und warten darauf, daß man endlich zum Kaffeetrinken gehen kann. Träge Augen mit Lidern auf Halbmast registrieren die neuesten free porns, und mit einem viertel Glubscher schielen alle auf ihre blöden Aktienticker. 
Als ersten Test lasse ich die am meisten abgefragte Aktie um 2% nach oben schnellen. Es passiert nichts; am LEERstuhl herrscht die gewohnte Nachmittagsmahlverdauuungsruhe. 
Enttäuscht lege ich noch 8% Prozent nach. Ganz hinten höre ich Jenny in ihrem Büro quieken wie ein erfreutes Ferkel, daß kurz vor dem Schlachten entdeckt, daß es auf der Welt noch etwas anderes gibt als seinen Mastkoben. Auch in den anderen Büros wird es lebendig. Türen werden aufgerissen; aufgeregtes Getuschel über den Gang hinweg. Ich nehme den Kurs wieder um 4% zurück und lasse zur Abwechslung mal die anderen Kurs ein wenig 'rauf und 'runter wackeln. Sozusagen die Ruhe vor dem Donnerschlag, hehe! 
Zwei Doktoranden eilen an meiner offenen Bürotür vorbei; der eine trägt einen Vaio mit Funk-LAN-Karte; beide starren so gebannt auf den Börsenticker, daß sie glatt über den Computerschrott fliegen, den ich aus nostalgischen Gründen auf den Gang aufgestapelt habe. Die nächsten zwanzig Minuten lasse ich die Hauptaktie jede Minute um ein Prozent ansteigen. Die letzten Prozente werden von spitzen Freudenschreien aus allen Büros quittiert und aus den Büro der Kollegen O. ist ein Geräusch zu vernehmen, das verdächtig nach dem Knallen eines Sektkorkens klingt. Ich höre sogar, wie der Kollege Rinzling seine keimdicht versiegelte Bürotüre aufbricht und erstaunlich fetzig über den Gang hinüber ins Sekretariat humpelt. Merkwürdig, heute morgen hieß es noch, er können wegen eines akuten Gichtanfalls keinen Zeh mehr rühren ... Plötzlich steht der Kollege O. in der Türe, unter dem Arm eine riesige Magnum-Sektflasche. 
"Leisch!" 
brüllt er und schwenkt heftig sein randvolles Sektglas, so daß ein nicht unerheblicher Teil in meinen offenen 1000 GB-RAID-Server spritzt. 
"Leisch, du wirst es nicht glauben ...!" 
Komisch, ich glaube es tatsächlich nicht. 
"Leisch! Die Soundso-Aktie ist in der letzten halben Stunde um 24% gestiegen! Und ich halte 300 Stück!" 
Er bricht in irres Lachen aus wie eine Tüpfel-Hyäne, die einen verunglückten Leichentransporter sichtet. Ich mache den Kollegen O. säuerlich darauf aufmerksam, daß sich empfindliche Speichertechnologie und billiger Sekt schlecht vertragen, aber er hört mich gar nicht zu Ende und eilt weiter in Richtung Sekretariat, wo man Rinzlings Stimme in den höchsten Fisteltönen seine plötzlichen Börsengewinne schildern hört. Na wartet! 
Im Laufe der nächsten Stunde lege noch ein wenig nach, bis die Soundso-Aktie 256% über ihren Anfangswert steht. Der LEERstuhl ähnelt inzwischen mehr einer ausufernden Teenager-Party als einer seriösen Bildungseinrichtung: 
Yogi Flop hat den Hörsaal-Lautsprecher auf den Gang geschleppt und läßt mit voller Lautstärke die neuesten Hits von ACDC laufen; auf dem Gang tanzen halb entblöste Studentinnen (mit kleinem 'i'!); jeder verfügt plötzlich über großzügig ausgelegte Gefäße mit alkoholischem Inhalt (ich frage mich allmählich, wo die Kollegen normalerweise den ganzen Stoff bunkern; muß ich bei Gelegenheit mal eruieren); Frau Bezelmann führt mit geschürztem Rock eine Stepptanzeinlage vor; der Hausmeister, der Hilfshausmeister und der Gehilfe des Hilfshausmeisters treffen mit vier Bierkästen ein und werden begeistert in Empfang genommen; der Kollege Rinzling - wahrscheinlich um zu zeigen, daß es mit seiner Gicht plötzlich viel besser geht - balanciert mit der linken Ferse auf einer leeren Magnumflasche, die auf einem umgedrehten Mülleimer steht, und macht mit beiden Armen harmonische Flügelbewegungen; Doro, die super-doofe Dogge des Hausmeisters, versucht freundschaftlich, mitten im Gang den Raben Nero zu begatten; Jenny und ein paar knackige Studenten (ohne 'i'!) verwandeln mit Hilfe von ein paar Feuerlöschern den Konferenzraum in eine ausgelassene Schaumparty. 
Ich beteilige mich fleißig am freien Alkoholkonsum, umso mehr, da ich als Einziger weiß, wie die Geschichte weitergeht. Kurz bevor die Dichte der weißen Mäuse kritische Werte annimmt, und bevor es eine der wild gewordenen Studentinnen schafft, mich ins Starkstrompraktikum abzuschleppen, rette ich mich torkelnd in mein Allerheiligstes und lasse die Aktienkurse rapide ins Bodenlose fallen. (Im Starkstrompraktikum steht ein behördlich vorgeschriebene Ruheliege für Notfälle; im Moment ist die wahrscheinlich pausenlos belegt!) 
Logischerweise dauert es ein paar Minuten, bis da draußen jemand die Katastrophe bemerkt. Ich mische mich unauffällig wieder unter das Party-Volk, damit ich später ein Alibi habe. Plötzlich ein spitzer Schrei: Marianne hat zufällig in O.s Workstation geschaut. Nach einer sehr langen Schrecksekunde hebt lautes Heulen und Zähneklappern an. 
"Das darf doch nicht wahr sein ... das darf doch nicht wahr sein ...", 
stottert der Kollege O. fassungslos. 
Ich muß mich schwer beherrschen, daß ich nicht laut loslache. 
"Was hast DU denn?" 
fragt Marianne plötzlich und fixiert mich mit mißtrauischem Blick. 
"Dein Gesicht zuckt so komisch!" 
Ah-oh! Jetzt bloß keinen Fehler machen! Marianne hat hier sicher irgendwo ihren verdammten Posaunenkasten deponiert, mit dem sie mich immer zu verprügeln pflegt, wenn ich an ihrer Mailbox 'rummache. Ich reiße mit großartiger Geste ein Bündel uralter Reisekostenabrechnungen aus meiner Innentasche und zerknülle sie mit theatralisch erhobener Hand. 
"Meine Soundso-Aktien", 
erkläre ich mit erstickter Stimme, 
"die kann ich mir jetzt verreiben!" 
Damit zerfetze ich die Papiere in winzige Fitzel, bevor Marianne irgendwelche nähere Untersuchungen anstellen kann, und werfe sie dramatisch über die Schulter. 
Dummerweise steht genau hinter mir der Chef, der jetzt gerade erst ins Institut kommt und erstaunt feststellen muß, daß sein LEERstuhl so aussieht, als ob ein Bataillon australischer Oktoberfestgänger durchgestürmt wäre. Natürlich (und nach Murphy) bekommt er die Ladung Papierfitzel mitten ins Gesicht. 
Bevor er auch nur "... äh ..." sagen kann, bricht am anderen Ende des Ganges beim Sekretariat Tumult aus. Jenny schreit verzweifelt um Hilfe, weil sich der Kollege Rinzling nicht mehr rühre. Normalerweise würde diese Nachricht niemandem am LEERstuhl auch nur ein müdes Ohrenzucken entlocken - vom Kollegen Rinzling ist man schließlich inzwischen Einiges gewohnt -, aber unter den zugegeben etwas ungewöhnlichen Umständen ...? Tatsache ist, daß der Kollege Rinzling stocksteif wie eine Salzsäule im Sekretariat steht, mit ausgestrecktem Arm auf Frau Bezelmanns 22''-Bildschirm deutet, auf dem sich übergroß der fatale Kursabsturz abzeichnet. Das wäre ja an und für sich noch nicht so besorgniserregend, wäre da nicht noch die Tatsache, daß sein Gesicht aussieht wie nach dem Angriff der Lila-Filzstift-Wesen, und er scheinbar jegliche Respiration eingestellt hat. 
Nach ein paar energischen Schubsern von Frau Bezelmann (zwei schwarze Gürtel!) bequemt sich Rinzling wenigstens dazu, seine Atmung wieder aufzunehmen (Pech!), und jammert gleich nach dem ersten Atemzug abwechselnd seinen verlorenen Aktiengewinnen hinterher und wegen heftiger Schmerzen in der linken Brust. 
Und weil dann natürlich doch noch herauskam, daß es die Hausse und Baisse nur an unserem LEERstuhl gegeben hatte, darf ich jetzt den Kollegen Rinzling im Park herumkutschieren! Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte! 
Glücklicherweise ist es wenigstens nicht anstrengend; Rinzling legt keinen Wert auf Geschwindigkeit. Im Gegenteil läßt er mich bei der weggeworfenenen Zigarettenkippe anhalten und stellt direkt daneben ein kleines Pappschildschild auf. 
Auf dem Pappschild steht: 
"Lieber Raucher. Das Nikotin in dieser weggeworfenen Kippe wird eine Tonne Trinkwasser für immer vergiften. Ich hoffe, daß Du wenigstens einen Teil davon abbekommen wirst. Aber bei meinem Pech werde ICH wahrscheinlich den größeren Teil davon trinken. Deshalb: F* DICH INS KNIE, DU A*!" 
Nach der zwölften Zigarettenkippe frage ich den Kollegen Rinzling hoffnungsvoll, ob es vielleicht möglich sei, daß sich meine Anwesenheit mit der Zeit negativ auf seinen Charakter auswirke. Der Kollege Rinzling überlegt einen Moment, dann mümmelt er grimmig unter seiner SARS-Maske: 
"Kann schon sein. Ich hab' aber nix dagegen!"
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